- jüdische Philosophie nach Maimonides
- jüdische Philosophie nach MaimonidesDie etwas einseitige Vernunftbetonung des Maimonides und seiner Nachfolger hatte nicht nur konservative Stimmen und Persönlichkeiten zur Reaktion herausgefordert, sondern auch eine neue geistige Strömung ins Leben hervorgerufen: die Kabbala mit ihrer üppigen Sexualsymbolik und ihren plastischen Bildern. Damit soll nicht gesagt sein, dass die jüdische Mystik, eine sich selbst benennende Tradition, nur als Ausgeburt einer Reaktion gewisser jüdischer Kreise zu betrachten sei; gleichwohl verstand sich die Kabbala als einen Damm gegen eine Abstraktion, eine Vergeistigung oder gar eine Verflüchtigung des Judentums. Die angehenden Kabbalisten waren selbstverständlich philosophisch vorgebildet, fühlten sich aber vom spekulativen Denken tief enttäuscht und schlugen deswegen andere Richtungen ein. Indem sie auf haggadische Stellen zurückgriffen, die sie mystisch oder kabbalistisch färbten, zeigten sie, dass Probleme, die für die geschulten Philosophen nicht zu lösen waren, auf mystischer Ebene eine Lösung erfuhren: Das Nichts, wie die Kabbalisten es auffassten, war ein mystisches Nichts, dessen Seinsfülle nicht zu übertreffen war. Indem Gott dieses Nichts anfasste, schuf er daraus unsere Welt! Die Verflochtenheit von rationaler Theologie und Kabbala lässt sich weiter verdeutlichen: Während die Philosophen hochkomplizierte Seelentheorien ausklügelten, nämlich über die eigentliche Beschaffenheit der Menschenseele oder über ihre Konjunktion, ihre Vereinigung mit dem wirkenden Geist oder dem tätigen Verstand, führten die Kabbalisten die berüchtigte Seelenwanderungslehre ins Judentum ein und entwickelten sie sogar zu einer Hauptlehre der Kabbala. Der seriöse Bibelexeget Rabbi Mose ben Nachman, Nachmanides, erklärte das Hiob-Buch nicht anders als durch diese Seelenwanderungstheorie: Ursprünglich soll Hiob eine andere Seele in sich gehabt haben. Sie musste geläutert und gereinigt werden, und erst nach diesem Läuterungsprozess, anhand von Peinigungen und Heimsuchungen, bekam er eine reine und unschuldige Seele zurück. Es ist offensichtlich, dass die Kabbalisten Theorien entwickelten, um dem Gebaren der philosophischen Vernunft Widerstand zu leisten.Es stellt sich hier die wichtige Frage der Beziehungen zwischen Kabbala und Philosophie: Wie konnten einige Denker den waghalsigen Versuch unternehmen, zugleich Kabbalist und Averroist zu sein? Sogar der berühmte Religionsphilosoph Mose Narboni, der ein großer Averroist war, konnte der Versuchung nicht vollständig widerstehen. Er ließ sich in seinen jungen Jahren von der Kabbala gewissermaßen bezaubern, bevor sein gesunder Menschenverstand ihn wieder auf sicherere Wege brachte. Narboni haben wir es zu verdanken, dass uns die wichtige politische Schrift des arabischen Philosophen Ibn Badjdja mit lateinischem Namen Avempace in einer hebräischen Fassung aus dem 12. Jahrhundert vererbt wurde; die arabische Vorlage galt bis 1940 als verschollen.Es gab auch philosophische Versuche, die Kabbala zu bekämpfen, sie als ein Produkt des Mittelalters zu entlarven und ihr die vermeintlichen Ansprüche auf jüdische Authentizität und Tradition streitig zu machen. Im 15. Jahrhundert war Elia Delmedigo der erste jüdische Kabbala-Kritiker. Seine Zeitgenossen verargten ihm diese Kritiken so sehr, dass seine »Prüfung der Religion« fast anderthalb Jahrhunderte der Drucklegung harren musste. Elia war ein erfolgreicher Lehrbeauftragter an der Universität von Padua; er spielte eine ausschlaggebende Vermittlerrolle zwischen der jüdisch-arabischen Gelehrtenwelt und dem christlichen Abendland: Die Juden verfügten fast unmittelbar nach der Abfassung über eine hebräische Übersetzung von Ibn Ruschds »Tahafut al-Tahafut«, der Widerlegung von al-Ghasalis Angriff auf die Philosophie; erst zwei Jahrhunderte danach trug Delmedigo zur Erschließung dieser wichtigen Quelle im christlichen Abendland bei, indem er eine lateinische Übertragung anfertigte. Das gleiche galt auch für einen Traktat des Ibn Ruschd über den Intellekt, dessen arabische Vorlage bis heute als verschollen gilt und der nur in einer hebräischen Übersetzung gerettet wurde, versehen mit einem meisterhaften Kommentar des Mose Narboni. Die enge Verwobenheit arabisch-jüdischer Beziehungen, die sich um das Werk des Maimonides entsponnen hatten, kam aber keineswegs zu einem Abschluss.Das Denken des Maimonides wirkte auch bei der Entstehung der jüdischen Aufklärung und der Formgebung des modernen Judentums mit. Für das 18. Jahrhundert kann der wenig bekannte Jacob Emden als der große Gelehrte von Norddeutschland gelten; er verkörpert den Übergang von der Vormoderne in die eigentliche Moderne, obwohl er selbst auf der Schwelle der neuen Zeit stehengeblieben ist. Man spürt an der Zerrissenheit seiner Seele, dass er die Verdrängung des althergebrachten Judentums durch die Moderne nie verschmerzte. Er stand im Briefwechsel mit Moses Mendelssohn, dem Symbol der anbrechenden Aufklärung im Judentum. Es besteht eine Kontinuität zwischen Moses Maimonides und Moses Mendelssohn, und dieser Fortsetzungsgeist geht auf den jüdischen Averroismus zurück: Eine solche Kontinuität und deren Ideologie, die mit der Kritik der religiösen Tradition begann, pflanzte sich in den neuen Keimen der jüdischen Geistesgeschichte fort: Man erlebte eine Erneuerung; und diese Erneuerung verkörperte sich in einer keimenden deutsch-jüdischen Geistesgeschichte. Deutschland, seine Sprache und seine Kultur spielten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bei den Juden dieselbe Rolle, die die Iberische Halbinsel und ihr geistiges Erbe im Mittelalter innegehabt hatten. Eingedenk der intimen Bande zwischen dem jüdischen Mittelalter und dem neuen jüdischen Denken in Deutschland oder im deutschsprachigen Kulturgebiet kann gesagt werden, dass es ohne Maimonides nie einen Mendelssohn gegeben hätte und ohne Mendelssohn und dessen Nachfolger im 19. Jahrhundert keine Wissenschaft des Judentums hätte entstehen können.Mendelssohn war ja kein Historiker im üblichen Sinn des Wortes; er war eher ein Denker, ein Philosoph, der das Judentum mehr interpretiert als er es beschrieben hat, wie es zu seiner Zeit eigentlich war. Dieses Bild des Judentums hatte er auf die kommenden Generationen vererbt. Es ist getragen von der Hoffnung auf eine Erschließung des Judentums aus dem Geist der Aufklärung. Dieses Vorhaben wurde aber nicht von diesen Vorkämpfern der Judenemanzipation ausgeführt; es wurde dann von Leopold Zunz, Heinrich Graetz, Hermann Cohen und Leo Baeck und vielen anderen Gelehrten des 19. Jahrhunderts bewerkstelligt. Sie waren sich stets des mittelalterlichen Erbes bewusst.Prof. Dr. Maurice-Ruben HayounStemberger, Günter: Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung. München 1977.
Universal-Lexikon. 2012.